Am Rand des Friedhofs, neben der barocken Dorfkirche steht die Stiva da Morts, die Totenstube. Sie beherbergt einen Aufbahrungs- und Andachtsraum im Erdgeschoss sowie einen Aufenthaltsraum mit Teeküche im Obergeschoss. Durch das abfallende Gelände ruht der Bau auf einem abgetreppten Betonsockel und ragt von der Kirche aus betrachtet nur um ein Geschoss über Bodenniveau auf. Die Totenstube wurde in Blockbauweise errichtet. Eine zweischalige Konstruktion ermöglicht eine gute Dämmung. Die Vorstösse über dem Obergeschoss kragen weit vor und tragen das mit Steinplatten gedeckte Dach, das zum Witterungsschutz beiträgt. Die Fenster sind je nach Situation innen oder aussen angeordnet und geben den Blick auf das Tal frei. Die Fassaden wurden mit Kasein behandelt – einem Gemisch aus Quark und Kalk – was nicht nur den Witterungsschutz ergänzt, sondern den Holzbalken auch einen weissgrauen Farbton verleiht. So gleicht sich der Holzbau dem hell verputzten Kirchenschiff an. Im Innern sind Wände, Treppe und feste Einrichtung grösstenteils aus Holz gefügt, das mit Schellack versiegelt wurde: Ein Lack, den man früher nutzte, um wertvollen Möbeln einen dezenten Glanz und eine gute Schutzschicht zu verleihen. Je nach Lichteinfall schimmern die hölzernen Oberflächen gelb bis golden und erzeugen eine sinnliche, dennoch heimelige Stimmung, die dem würdevollen Abschiednehmen angemessen ist. Die Gestaltung knüpft an die Tradition an, die Toten in der eigenen Stube oder im Schlafzimmer aufzubahren. Die Stiva da Morts zeigt eindrücklich, dass traditionelle Baumaterialien stimmungsvolle und dauerhafte Architektur schaffen können.
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